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Wenn das Anfassen einer Stange ein riesiger Erfolg ist - Interview mit dem Wiesbadener Fotografen Rui Camilo anlässlich seiner Ausstellung „sichtbar“ im Rathaus Wiesbaden

2009 reiste Rui Camilo auf Einladung der damaligen Entwicklungsministerin Heidemarie Wiczorek-Zeul nach Johannesburg, Südafrika, um dort die Situation von Kindern mit Behinderung zu dokumentieren. Bei dieser Gelegenheit lernte der Fotograf das Projekt Kinderhospiz Löwenmut kennen. Ein Bildband dieser intensiven Reise veröffentlichte er 2022 unter dem Titel „34hours“. 14 Jahre später reiste er erneut nach Südafrika, um das Kinderhospiz zu besuchen. Seine Fotoreportage wird vom 03. - 12.05. im Wiesbadener Rathausfoyer ausgestellt.

Warum fühlen Sie sich dem Projekt ‚Löwenmut‘ in Südafrika verbunden?

Für mich ist es einfach unglaublich, was Wolfgang Groh und die IFB mit Hilfe von Spenden dort aufgebaut haben. Kinder mit Schwerbehinderung und lebensverkürzenden Erkrankungen können unabhängig ihres Alters und ihrer Herkunft an diesem Ort ein würdevolles Leben führen und erhalten professionelle Pflege und pädagogische Förderung. In meinem Buch gibt es sogar ein Bild vom Spatenstich des heutigen Therapiezentrums bei Löwenmut, das in Form einer „Sonne“ gebaut wurde. Seit damals verfolge ich die großartige Arbeit, die die IFB-Stiftung hier in Deutschland für Menschen mit Behinderung und in Südafrika leistet. Man kann sich das in Europa vielleicht gar nicht vorstellen, wie es armen Kindern in den Townships, vor allem aber denen mit einer geistigen oder körperlichen Behinderung geht. Diese Kinder sind Außenseiter der Gesellschaft. Bestenfalls können sie in den Familien bleiben, sind dann aber häufig nicht ausreichend gepflegt und betreut. Ganz oft werden sie ausgesetzt oder zur Adoption freigegeben, weil die intensive und zeitlich sehr aufwendige Betreuung und Pflege die Familien finanziell komplett überfordert und an die Belastungsgrenze bringt. Doch wer adoptiert schon ein behindertes Kind? In Südafrika sind die Chancen für ein solches Kind noch viel schlechter als in Deutschland. Alle diese Kinder landen – wenn sie Glück haben – bei Löwenmut.

Was waren Ihre ersten Eindrücke von der Region Klipriver, in der das Kinderhospiz liegt?

Als ich vor 14 Jahren zum ersten Mal da war, gab es dort nur ein großes leeres Feld. Eine Region, in deren Nähe die Großstadt und Wirtschaftsmetropole Johannesburg liegt, die so genannte ‚Stadt des Goldes‘, wo sich Luxushotels aneinanderreihen, in denen Touristen einchecken, weil Golf, Wein und Safaris locken. Gleich neben Johannesburg liegt Soweto. Auch hier gibt es heute schöne Häuser wohlhabender Menschen und sogar eines der größten Krankenhäuser der Welt, aber eben auch die Township-Siedlung mit ihren ärmlichen Hütten aus Wellblech. Die meisten Kinder hier besitzen weder Spielzeug noch Bücher, und besuchen oft weder Kindergarten noch Schule. Hierhin verschlägt es die Touristen in der Regel nicht, weil es zu gefährlich ist. Sogar das Auswärtige Amt warnt eindringlich vor Besuchen, besonders in der Nacht. Südlich von Soweto, der Metropole der Gegensätze, liegt das Kinderhospiz Löwenmut in einer ländlich anmutenden Gegend, die zwar mittendrin, aber doch weit weg von der dortigen Lebensrealität zu sein scheint.

Wie haben Sie das Kinderhospiz in Südafrika erlebt?

Es ist ein freundliches und lichtdurchflutetes Heim, das schwerkranken und behinderten Kinder ein liebevolles und vor allem geborgenes Zuhause gibt. Mit auf dem Gelände befindet sich eine kleine Farm, wo Pferde, Hühner, Schafe und Ziegen leben, sowie einen Garten mit zum Teil erhöhten und damit behindertengerechten Beeten, in denen Salat, Tomaten und Gemüse wachsen. Da hat Löwenmut eine richtig kleine Oase geschaffen, in der die Kinder leben und gefördert werden – auch indem sie, soweit es ihnen aufgrund ihrer jeweiligen Behinderung möglich ist, bei der Betreuung der Tiere und des Gartens kleine Aufgaben übernehmen oder eben zu therapeutischen Zwecken Tiere, Pflanzen und Erde kennenlernen. Sie sind geschützt vor einer oft bedrohlichen Außenwelt, in die es manchmal Überwindung kostet, in sie einzutauchen.

Auf einigen Ihrer Fotos sind Kinder in einem leeren, weißen Gang zu sehen? Ist das nicht eher ein trauriger Anblick?

Für einen Europäer ist das vielleicht der erste Eindruck. Für Menschen, die in ihrer Hütte nur einen Lehmboden, kein fließendes Wasser und keine sanitären Anlagen haben, hat so ein Gang eine komplett andere Bedeutung - nämlich Sauberkeit, Sicherheit und die Möglichkeit eines würdevollen Daseins. Das ist genau das Gegenteil, was ich bei meinem letzten Besuch vor 14 Jahren in Südafrika erlebt habe. Die Heime waren dunkel, wenig Licht drang damals in die Räume. Es gab nur uralte Betten mit noch älteren Matratzen für die Kinder und kaum Mobiliar. Anstelle von Lernspielzeug und kindgerechten Rollstühlen wurden gammelige Stofftiere in den Ecken aufgetürmt. Mehr war da nicht. Wenn man heute das Hospiz betritt, fällt die Sauberkeit hier auf. Alles blitzt, man könnte vom Boden essen. Vor allem in den südafrikanischen Townships haben die Menschen nicht die Möglichkeiten, sich so eine Umgebung zu schaffen, es wirkt ein bisschen wie aus einer anderen Welt, die für uns selbstverständlich ist, keineswegs aber für die Menschen dort.

Welche Behinderungen haben die Kinder? Konnten Sie mit ihnen Kontakt aufnehmen?

Die Kinder haben körperliche und geistige Behinderungen in unterschiedlicher Ausprägung. Einige können sich kaum bewegen und sind auf ihren Rollstuhl angewiesen, andere sind mobil. Auch wenn die Kinder eine geistige Behinderung haben, ist die Kommunikation mit ihnen immer möglich. Viele lieben es, wenn man sie streichelt oder in den Arm nimmt, oder einfach nur ein bisschen Quatsch macht. Dann lächeln sie und sind glücklich, wie es auch jedes andere Kind wäre. Einige lieben Musik und tanzen. Wie alle Kinder spielen sie gerne oder schauen auch mal fern. Die Betreuer lassen sich viel einfallen. Sie basteln, backen und machen kleine Ausflüge auf die Farm. Das ist mit einer Gruppe von Rollstuhlkindern schon ein aufwendiges Unternehmen.

Welche besonderen Erlebnisse hatten Sie mit den Kindern?

Ich erinnere mich daran, wie Joshua versuchte, auf dem Hospiz-Spielplatz eine Kletterstange aus Eisen zu erreichen. Das hat er wohl schon eine ganze Weile probiert und war immer erfolglos dabei. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck mit der Kamera festhalten, als es ihm zum ersten Mal gelungen ist, die Stange mit seinen Händen zu fassen. Erst war es eine unglaubliche Anstrengung für ihn und dann breitete sich ein unbeschwertes Kinderlachen über sein ganzes Gesicht aus. Der Lebenswille dieser Kinder und die Art und Weise wie sie Freude und Traurigkeit ausdrücken, macht einem selbst Mut und man hinterfragt das eigene verwöhnte Leben. In der Arbeit mit diesen Kindern bekommt man von ihnen definitiv auch sehr viel zurück.

Oder ich erinnere mich an Vuzi, ein kleiner Junge, der eigentlich immer fröhlich ist und jeden anlächelt, der zu ihm kommt. Aber manchmal wird der Kleine irgendwie ganz nachdenklich und in sich gekehrt, als würde er in ein fernes Universum blicken. Solche Momente hat er immer mal wieder, bevor sein vereinnahmendes Lächeln wieder auftaucht wie ein kleiner Sonnenstrahl. Manchmal schließt er auch nur die Augen und dreht sein Gesicht zur Sonne, um die wohltuende Wärme zu genießen.

Ein anderer Junge, dessen Hände durch Spastiken fast unbeweglich schienen, hat mich vom kompletten Gegenteil überzeugt, als wir ihm eine Boumbox in die Hand gedrückt haben. Mit nur wenigen geschickten Fingerbewegungen ist es ihm nicht nur gelungen, das Gerät zum Abspielen zu bringen, er hat dabei auch noch einen Sender mit richtig guter Musik gefunden. Er fing sofort an, in seinem Rollstuhl Tanzbewegungen zu machen und alle um sich herum damit anzustecken. Ohne seine Behinderung wäre er mit Sicherheit ein DJ geworden, bei Löwenmut kann er es auch mit seiner Behinderung sein.

Auch Snezy ist mir in Erinnerung geblieben. Das kleine Mädchen mit Gelenksteife in den Armen und Beinen wurde mit fünf Jahren aus einer Hütte geholt, in der es zuvor mit seinem Opa zusammengelebt hat. Die Eltern hatten das Kind wohl einfach bei ihm abgegeben und der alte Mann war mit der Pflege völlig überfordert. Entsprechend verwahrlost war das Kind als es zu Löwenmut gekommen ist. Jetzt ist die Kleine 11 Jahre alt und entwickelt sich prächtig. Sie ist zwar körperlich schwer beeinträchtigt, aber im Kopf topfit. Die Betreuer versuchen, die Kinder durch verschiedene Lernangebote zu fördern. Snezy malt beispielsweise leidenschaftlich gern, doch weil sie ihre Arme nicht bewegen kann, hat sie gelernt, Stifte im Mund zu halten und auf diese Weise zu zeichnen. Auch wenn die Gruppe einen Kuchen backt, hält das Mädchen die Rührlöffel im Mund. Ich bin mir sicher, das Kind wäre nicht mehr am Leben, wenn es nicht das Kinderhospiz gäbe.

Wie haben Sie die Betreuer erlebt?

Alle zeigen täglich vollen Einsatz. Aber leider beanspruchen Betreuung und Pflege der Kinder sehr viel Zeit, wodurch die Beschäftigung mit den Kindern manchmal zu kurz kommt. Diese Lücke schließen dann junge Menschen, die als Volunteers für einige Wochen und Monate in das Kinderhospiz kommen, um zu helfen. Die bringen viele Ideen mit und basteln und malen mit den Kindern, oder zeigen ihnen wie man mit einem elektrischen Rollstuhl umgeht. Zu Ostern werden mit den Kindern kleine Geschenke gesucht oder es wird ein Ausflug zu den Farmtieren unternommen, um sie zu füttern. Und ganz toll kommen auch immer die Besuche im so genannten Snoozle-Raum, dem Kuschelraum, an, der mit Decken und Kissen ausgestattet ist. Denn wie die meisten Kinder sehnen auch sie sich einfach nach körperlicher Nähe und Streicheleinheiten. Das ist auch völlig normal, denn einige Kinder sind tatsächlich noch Babys, die irgendwo ausgesetzt wurden. Viele ausgesetzte Babys sterben, weil sie nicht rechtzeitig gefunden werden. Um das zu verhindern, wurde auf dem Gelände des Kinderhospizes und angrenzend an eine ruhige Straße eine Babyklappe gebaut. Dabei handelt es sich um eine temperierte Stahl-Box mit Alarmanlage. Hierhinein können ungewollte Babys von ihren Müttern sicher abgelegt werden.

Warum wollen Sie sich weiter für das Kinderhospiz Löwenmut einsetzen?

Viele dieser Kinder haben in Südafrika niemanden, der sich um sie kümmern könnte und viele der 43 Kinder und Jugendliche, die jetzt dort leben, wären heute bestimmt nicht mehr am Leben, wenn es Löwenmut nicht gegeben hätte. Kinder, die in deutschen Hospizen leben, können sehr gut versorgt werden. In Südafrika ist es nicht einmal garantiert, dass es den ganzen Tag oder Nacht Strom gibt. Strom fällt immer wieder aus. Einige Kinder sind aber auf Beatmungsmaschinen angewiesen, die 24 Stunden mit Strom versorgt werden müssen. Die Stromausfälle versuchen die Betreuer mit Generatoren zu überbrücken. Doch wenn auch die mal ausfallen, könnte das ein Kinderleben kosten. Deshalb versuche ich dabei zu helfen, genügend Spenden für eine Solaranlage zu sammeln, damit das Kinderhospiz unabhängig vom örtlichen Stromnetz wird. Das wäre ein Segen für diese kranken Kinder. Aber auch die anderen brauchen unsere Unterstützung. Wenn sie beispielsweise aus ihren alten Kinderrollstühlen herauswachsen und größere angeschafft werden müssen. Wer in die Augen der Kinder geblickt hat und sie lachen sieht, wird das, wie ich auch, nie vergessen können. Daher werde ich auch weiterhin das Kinderhospiz unterstützen.

 

Über den Fotografen Rui Camilo:

Rui Camilo wurde 1964 in Lissabon, Portugal, geboren. Seit Mitte der siebziger Jahre lebt und arbeitet er in Wiesbaden als freischaffender Fotograf. Neben seiner kommerziellen Arbeit, u.a. für die DKMS-Life und die Deutsche Krebshilfe, entwickelt er seine persönlichen Projekte meist mit dem Schwerpunkt der Signatur des Menschen auf dessen Lebensräume.

Weitere Informationen unter:

 www.rui-camilo.de

 www.kinderhospiz-loewenmut.de

Bild 1: Joshua versucht zum ersten Mal allein die Stange zu erreichen, um an ihr runterzurutschen, Kinderhospiz Löwenmut, Klipriver, Johannesburg, Südafrika (Foto: Rui Camilo)
Bild 2: Snezy kann nur mit ihrem Mund die Stifte zum Malen benutzen, Kinderhospiz Löwenmut in Klipriver, Johannesburg, Südafrika (Foto: Rui Camilo)
Bild 3: Anda und Celine mit Tieren, Kinderhospiz Löwenmut in Klipriver, Johannesburg, Südafrika (Foto: Rui Camilo)
Bild 4: Rui Camilo in Aktion im Kinderhospiz Löwenmut, Klipriver, Johannesburg, Südafrika. (Foto: Löwenmut)
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