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Hinschauen und „Nein“ sagen - Gemeinnützige Zuhause Mobil GmbH entwickelt Gewaltschutz-Konzept – Rückhalt nicht nur für Menschen mit Behinderung

GÖRSROTH/WIESBADEN. Menschen mit Behinderung sind deutlich häufiger von Gewalt betroffen als der Bevölkerungsdurchschnitt. Das reicht von Grenzverletzungen, die körperliche Distanz und Schamgrenzen missachten, bis hin zu strafrechtlich relevanten Übergriffen. Durch das Bundesteilhabegesetz sind nun auch ambulante und teilstationäre Einrichtungen verpflichtet, darzulegen, wie sie Gewaltprävention entgegenwirken. Die Gemeinnützige Zuhause Mobil GmbH mit Sitz in Wiesbaden betreut 335 Klientinnen und Klienten mit Einschränkungen ambulant - in Wiesbaden, dem Rheingau-Taunus-Kreis, dem Main-Taunus-Kreis, Limburg und in Frankfurt. Wir sprachen mit Teilhabe-Expertin Claudia Schlepper über ein von ihr federführend entwickeltes Konzept zur Gewaltprävention.

Warum brauchen Menschen mit Behinderung besondere Schutzregeln gegen Grenzverletzungen und Gewalt?

Claudia Schlepper: Weil sie überdurchschnittlich oft Gewalt ausgesetzt sind: 62 Prozent der Frauen mit Behinderung sind laut Teilhabebericht der Bundesregierung bereits einmal im Leben körperlicher Gewalt ausgesetzt gewesen, Männer mit Behinderung zu 71 Prozent. Das sind alarmierende, weit überdurchschnittliche Zahlen, die Menschenwürde und Selbstbestimmungsrecht mit Füßen treten. Es ist wichtig, das klar zu benennen und Vorkehrungen zu treffen, um eine Kultur des Hinschauens zu ermöglichen - statt darüber zu schweigen.

War Gewalt in Ihrem Unternehmen bisher ein Tabu?

Schlepper: Nein. Aber die Überzeugung „Bei uns doch nicht!“ gab es schon. Seit wir intensiv darüber sprechen, differenzieren, welche, vielleicht auch subtilen Formen der Gewalt uns im Laufe des Berufslebens begegnet sind, ist das Bewusstsein dafür, dass Gewalt überall vorkommt und viele hässliche Gesichter hat, gewachsen. Und es besteht Konsens, dass es wichtig ist, Klienten und Mitarbeitende durch eine klare Haltung und Handlungsvorgaben zu befähigen, hinzuschauen und gegenzuhalten.

Befördern Abhängigkeit oder körperliche Wehrlosigkeit Grenzverletzungen und Gewalt an Menschen mit Behinderung?

Schlepper: Das mag im Einzelfall Täterverhalten befördern. Ebenso wie eine oft eingeschränkte Artikulationsfähigkeit, die es schwermacht, deutlich Nein! zu sagen oder auch einen Übergriff zu melden. Hinzu kommt: Unsere Arbeit ist geprägt von Nähe und Vertrauen; aber eben auch von professioneller Distanz. Diese Balance hinzubekommen, verlangt persönliche und fachliche Befähigung. Mir geht es mit dem Gewaltschutzkonzept auch um eine Handreichung für Mitarbeitende, sich an der Stelle immer wieder zu überprüfen und sich Hilfe zu holen, falls dies erforderlich ist.

Es geht also auch um den Schutz von Mitarbeitenden?

Schlepper: Unbedingt. Wenn wir von Gewaltschutz sprechen, sehen wir die Klienten nicht automatisch in der Opferrolle. Unser Konzept befasst sich ebenso mit Gewalt und Übergriffen gegen Mitarbeitende, zwischen Klienten oder von Dritten, etwa einem externen Dienstleister oder Angehörigen gegen einen Klienten. Wenn man damit konfrontiert ist, kann das in der Situation erstmal überfordern. Deshalb haben wir für unterschiedliche Szenarien verbindliche Handlungsabläufe beschrieben. Und wir haben diese auch in Leichte Sprache übersetzt, denn natürlich ist es wichtig, dass unsere Klientinnen und Klienten unser Konzept auch verstehen.

Wie sehen Sanktionen bei Grenzverletzungen gegen Mitarbeitende aus?

Schlepper: Das hängt vom Einzelfall ab, auch davon, ob sich ein Vorwurf oder Verdacht bestätigt. Wichtig ist mir, dass jeder neue Mitarbeitende mit der Einstellung eine Selbstverpflichtung zum Gewaltschutz unterschreibt, auch Praktikanten und Ehrenamtliche. Alle, die im 1:1-Verhältnis zu unseren Klienten stehen. Damit machen wir von Beginn an klar, welche Haltung wir zu diesem Thema haben. Wir beschreiben Meldewege, nennen Ansprechpartner und Hilfestellen. Niemand kann mehr sagen „Das ist bei uns kein Thema!“ Es ist ein Thema, weil wir es zum Thema machen und damit ein Wegschauen und Totschweigen erschweren.

Teilhabe-Expertin Claudia Schlepper.
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