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Der Blick geht nach vorn - Drei Frauen fliehen aus dem ukrainischen Charkiw und finden bei der IFB eine sichere Bleibe

Yeva hat gerade ihren zweiten Krieg erlebt. 2014 floh sie aus dem Donbass vor russischen Bomben nach Charkiw; im Februar musste sie auch dieses Zuhause wieder Hals über Kopf verlassen. Ihren 18. Geburtstag feierte sie in einem Übergangsquartier. Seit dem 25. März lebt sie mit ihrer Mutter und ihrer auf den Rollstuhl angewiesenen Schwester in einer Wohnung der IFB-Stiftung in Wiesbaden-Dotzheim. Und beginnt, nach vorn zu schauen – trotz der Sorgen um die Menschen, die noch im Krieg sind.

Warme Kleidung, Medikamente, ein paar Hygieneartikel und Konserven. Das war alles, was Olha (46) und ihre Töchter Yeva (18) und Iryna (26) mitnehmen konnten auf eine Reise ins Ungewisse. Am 24. Februar morgens um 5 Uhr wird Yeva von Bombeneinschlägen aus dem Schlaf gerissen. In Panik weckt sie Mutter und Schwester. Sie weiß, wie Krieg klingt. Bereits 2014 musste die Familie vor russischen Truppen fliehen. Sie lebte damals im Donbass, an der Grenze zu Russland. „Dort konnte man erleben, was passieren kann“, sagt sie in flüssigem Englisch, das sie in der Schule gelernt hat. Die kleine Familie fasste danach Fuß in der ostukrainischen Millionenstadt Charkiw. Mutter Olha arbeitete im Büro, ihre ältere Schwester Iryna als Grafikerin; sie selbst studiert Business Administration.

Das Trauma wiederholt sich

Acht Jahre später verliert die Familie erneut ihr Zuhause. Wieder zittern die Scheiben durch Detonationen. Drei Tage verbringen die Frauen in einem Dorf bei Charkiw. Yevas Freund drängt: „Geht!“ Und das tun sie. Fünf Tage machen sie Station in der Zentralukraine. Aber auch dort gibt es Luftalarm, Kampfflugzeuge werfen ihre tödlichen Bomben ab, Flammen lodern. Man spürt die Anspannung, wenn Yeva von diesen Tagen berichtet. Also weiter nach Lemberg, Richtung polnische Grenze. 14 Stunden dauert die Fahrt im hoffnungslos überfüllten Zug. Die Sorge gilt vor allem Iryna. Sie lebt seit ihrer Geburt mit einer spinalen Muskelatrophie, kann sich ohne Rollstuhl nicht fortbewegen, ist auf Hilfe angewiesen. Ihre Muskeln können Bewegungen nicht umsetzen; die Befehlsweiterleitung vom Gehirn ist irreversibel gestört. Umsteigen, weitere 22 Stunden in einem anderen Zug, Warten an der 

Grenze zu Polen, unter chaotischen Bedingungen. Aber in dem Wissen, dass es dort besser werden kann. Denn Iryna hat noch von Kiew aus Kontakt zur Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke (DGM) gesucht. Die organisierte eine Unterkunft in Polen. „Hier konnten wir zum ersten Mal ein bisschen durchatmen“, erinnert sich Yeva; Mutter und Schwester, die nur russisch und ukrainisch sprechen, nicken.

Erst Freiburg, dann Dotzheim

Die Weiterreise nach Freiburg erfolgt mit einem Auto. Zwei Wochen lang leben die Frauen übergangsweise in einer barrierefreien Wohnung der DGM, Iryna bekommt einen höhenverstellbaren, elektrischen Rollstuhl. Parallel suchen die Helfer aus Freiburg eine dauerhafte Bleibe für die drei. Und hier ist die Verbindung nach Wiesbaden. Denn Camilla Wieck, die mit der derselben Erkrankung lebt wie Iryna, wird auf einen Post in den Sozialen Medien aufmerksam. Und setzt eine Welle der Hilfsbereitschaft in Gang: Die 51-jährige arbeitet seit vielen Jahren für die IFB-Stiftung, die sich für Inklusion durch Förderung und Betreuung einsetzt. Sie informiert Melissa Groh, die seit Jahresbeginn die Geschäfte der Stiftung leitet. Und die gibt grünes Licht für eine leerstehende, behindertengerechte Wohnung der Stiftung.

„Das war eine tolle Verbundenheit, die wir da erlebt haben“

Camilla Wieck, Mitarbeiterin der IFB-Stiftung

Ganz viele Kolleginnen und Kollegen packen mit an, renovieren nach Feierabend, sammeln Möbelspenden ein, tragen mit Unterstützung von Angehörigen, Freunden und sogar ganz fremden Menschen einen Hausstand inklusive Lebensmittel zusammen. Auch ein elektrisches Pflegebett für Iryna ist dabei. Alles binnen einer Woche, denn seit 25. März leben die drei Frauen in Dotzheim. „Das war eine tolle Verbundenheit, die wir da erlebt haben“, sagt Camilla Wieck. „Ärmel hochkrempeln und handeln, wenn Menschen mit Einschränkung Hilfe brauchen. Das mag ich an der IFB“, sagt Camilla Wieck. Sie und die drei Frauen sind jetzt Nachbarinnen. Die Familie aus Charkiw will Deutsch lernen, Arbeit finden. Sie glaubt nicht an eine baldige Rückkehr, auch wenn Olha, die Mutter, sich das so sehr wünscht. Zukunft, der Ort, um die Alpträume und das Erschrecken bei plötzlichem Lärm hinter sich zu lassen, ist für sie jetzt Wiesbaden.

Gefragt, wie es ihr inzwischen geht, sagt Yeva: „Es kann mir nur gut gehen. Uns ist so viel Freundlichkeit begegnet, so viel Hilfsbereitschaft. Ich habe jetzt sogar ein Fahrrad.“ Die Sorge um die, die noch im Krieg sind, das Entsetzen über die Bilder, die sie täglich aus ihrer Heimat sehen, bleiben. Aber auch das Gefühl, selbst in Sicherheit zu sein.

Seit 25. März leben Yeva, Olha und Iryna Sokora (von li.) in einer Wohnung der IFB-Stiftung. Unser Foto zeigt sie mit IFB-Mitarbeiterin Camilla Wieck (re.). Copyright: IFB-Stiftung
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